Ein Artikel zur anwendungsorientierten Einführung in die Integralrechnung wurde in der Zeitschrift Mathe-Regional veröffentlicht. Er ist hier in Auszügen wiedergegeben.

 

Auszug aus Mathe-Regional

Ein anwendungsorientierter Einstieg in die Integralrechnung

 

1. Aufgabenstellung

Kurz vor der Behandlung der Integralrechnung in meinem Leistungskurs im Herbst 1992 wurden durch einen Brand in einem Kunststofflager giftige Stoffe freigesetzt, und sie breiteten sich in der bewohnten Umgebung aus. Presse und Fernsehen berichteten ausführlich darüber. Diesen Unfall nahm ich zum Anlaß, um folgende Aufgabe zu stellen:

Bei einem Unfall werden Schadstoffe freigesetzt. Diese werden über eine gewisse Zeit von den Anwohnern eingeatmet. Wie groß ist die Schadstoffmenge, die in den menschlichen Körper gelangt?

Die Aufgabe wurde absichtlich so offen formuliert, da ich neben dem Einstieg in die Integralrechnung auch noch Aspekte der mathematischen Modellbildung behandeln wollte.

 

2. Phase der Modellbildung

Die Schülerinnen erkannten sofort, daß in der Aufgabe Zahlenangaben fehlten. Diese können nur von außerhalb der Mathematik kommen. Es wurde vereinbart, Zahlenangaben dann, wenn sie benötigt wurden, zu erfinden.

In der Diskussion wurde klar, daß die Schadstoffkonzentration in der Luft eine wichtige Rolle spielt. Es wurde ein Wert von 2 m g/m3 angenommen. Von dieser Konzentration ist die Aufnahmerate in den Körper (gemessen in m g/h) abhängig. Ein plausibler Ansatz war, daß die Aufnahmerate proportional zur Konzentration ist. Wir nahmen 10% an, so daß die Aufnahmerate 0,2 m g/h betrug. Die Menschen sollten sich 72 h im belasteten Gebiet aufhalten.

Als erstes Modell wurde die Produktbildung 72 h× 0,2 m g/h = 14,4 m g vorgeschlagen.

 

3. Kritik und Verbesserung des Modells 

Einige Schülerinnen waren mit dem Modell unzufrieden, da die konstante Aufnahmerate unrealistisch war. Mit diesem Einwand konnte der Kurs überzeugt werden, nach einem besseren Modell zu suchen.

Zunächst mußte die Aufnahmerate als Funktion der Zeit dargestellt werden. Einigkeit herrschte über die Monotonie der Funktion, der genaue Verlauf des Graphen wurde diskutiert. Wir einigten uns auf folgende Voraussetzungen:

- Am Anfang beträgt die Rate 0,2 m g/h

- Nach 100 h hat die Rate den Wert 0

- Am Anfang nimmt die Rate stärker ab als am Ende des Zeitraumes.

Es wurde vorgeschlagen, eine Parabel mit Scheitelpunkt bei (100/0) zu wählen. Damit ergab sich die Aufnahmeratenfunktion a(t) = 2× 10-5× t² - 4× 10-3× t + 0,2.

Alle Werte und Ansätze wurden in der Diskussion gefunden. Es gab keine Vorgaben durch mich. Natürlich wäre es auch denkbar gewesen, daß die Schülerinnen den Vorgang durch eine Exponentialfunktion modelliert hätten.

Da eine Produktbildung nun nicht mehr möglich war, waren die Schülerinnen zunächst ratlos. Mein Hinweis, eine Näherungslösung zu suchen, half jedoch weiter. Es wurde angenommen, daß innerhalb eines Tages die Aufnahmerate konstant sei und sich dann sprunghaft ändere:

1. Tag a(0)× 24 = 4,8

2. Tag a(24)× 24 = 2,9

3. Tag a(48)× 24 = 1,2

                            ____

Summe                   8,9

Der ermittelte Wert ist mit Sicherheit zu groß. In der Anwendungssituation gibt es Interessengruppen, die mit einem zu hohen Wert argumentieren. Andere Gruppen verwenden eher einen zu niedrigen Näherungswert. Diese Überlegung führte zur Bildung der Untersumme. Diese ergibt mit 4,6 etwa die Hälfte des anderen Wertes.

Wegen der großen Abweichungen der Näherungswerte voneinander müssen verbesserte Werte gefunden werden. Diese Verbesserungen wurden arbeitsteilig durchgeführt. Nimmt man etwa an, daß die Aufnahmerate für jeweils drei Stunden konstant ist, weichen die Näherungswerte nur noch um rund 10% voneinander ab. Diese Genauigkeit dürfte in der Anwendungssituation ausreichend sein, so daß die Aufgabe gelöst ist.

 

4. Kritik am verbesserten Modell

Nicht berücksichtigt wurde, daß der aufgenommene Stoff eventuell auch wieder ausgeschieden wird. Außerdem wurde kritisiert, daß die Rechnungen zwar einfach, ohne Computer aber sehr zeitaufwendig seien.

 

5. Fortsetzung des Unterrichtes

Den zweiten Kritikpunkt aufgreifend habe ich den Schülerinnen mitgeteilt, daß es eine sehr schnelle Möglichkeit gebe, sogar den exakten Wert (auf den es bei vielen Anwendungen aber gar nicht ankommt) bei Aufgaben des betrachteten Typs zu bestimmen. Allerdings sei dafür zunächst eine aufwendigere Theorie zu behandeln.

Wir analysierten die Aufgabenlösung noch einmal und fanden, daß es sich um eine Verallgemeinerung der Multiplikation aus dem ersten Modell, eine "Theorie der Multiplikation mit einem nicht konstanten Faktor" handeln müsse.

Anschließend wurde die Integralschreibweise eingeführt, Integrale als Grenzwert berechnet und die Theorie wie üblich behandelt.

 

6. Weitere Aufgaben

Durch die Charakterisierung der Integralrechnung als Verallgemeinerung der Multiplikation werden andere Anwendungen erstaunlich einfach:

Anwendung Multiplikationsmodell Integralmodell
Schadstoffauf-nahme Aufnahmerate x Zeit Integral über die Aufnahme-ratenfunktion in der Zeit-ausdehnung
Flächen Breite x Länge Integral über die Breiten-funktion in der Längenaus-dehnung
Volumina Querschnitt x Höhe Integral über die Quer-schnittsflächenfunktion in der Höhenausdehnung
Nahrungsbedarf einer Population Bedarfsrate x Zeit Integral über die Bedarfs-ratenfunktion in der Zeit-ausdehnung
Arbeit Kraft x Weg Integral über die Kraft-funktion in der Wegaus-dehnung

An keiner Stelle muß die Grenzwertbetrachtung neu aufgegriffen werden. Alle Anwendungen reduzieren sich darauf, die Integrandenfunktion zu finden. Der Inhalt einer Fläche zwischen zwei Graphen etwa braucht nicht -wie in den Schulbüchern üblich- als Differenz von Flächeninhalten betrachtet zu werden. Es ist unmittelbar klar, daß die Breitenfunktion durch f(x)-g(x) bzw. g(x)-f(x) gegeben ist.

 

 

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